Bar

Drei Parteien waren an der Beerdigung beteiligt. Drei Parteien die sich erst einmal hatten einigen müssen und das nicht nur auf einen Termin. Gut, dass Timm mit solchen Dingen nicht viel am Hut hatte. „…hm…“ entgegnete er knapp und zog das Blatt Papier, welches Nyela ihm zuschob näher an sich heran. Nachdem er den Artikel überflogen hatte, blickte er auf und fuhr sich mit der Hand über das dunkelblonde Haar. „Was passiert, passiert.“ antwortete Timm nüchtern als Nyela ihm gestand, sich  schuldig zu fühlen. „Es war ihre Entscheidung tagtäglich hier herzukommen und sich volllaufen zu lassen. Wer kann schon sagen, was sie gebracht hätte, wenn Du sie rausgeworfen hättest.“ fügte er hinzu. Sicherlich hielt sie ihn nun für herzlos. Doch schlussendlich war  nun einmal jeder für sich selbst verantwortlich. Jeder traf die Entscheidungen für sich. Man selbst konnte zwar alles daran setzen, einer Person auf den rechten Weg zu verhelfen, gehen musste sie diesen jedoch anschließend selbst und die taffe Blondine hatte sich bedauerlicherweise nun einmal für die frust- und realitätsverdrängende Variante entschieden… „Versteh mich nicht falsch.“ seufzte er und hob den Artikel der Löwen kurz an. „Ich find’s genauso geschmacklos wie Du. Lie hat nicht einfach das Land verlassen, sie ist tot und die Menschen feiern die ‚neue Ära‘. Na ja…“ Auf ihre Beschuldigung Lares - seinem Boss - gegenüber ging er nicht ein. Jeder konnte seiner Meinung nach denken was er wollte. Vielleicht war an ihren Worten sogar ein Funken Wahrheit dran. Wer wusste das schon so genau? Sicher wusste Timm nur eins, er wollte seine Nase nicht in diverse Angelegenheiten stecken die ihn nichts angingen. Vielleicht hatte der Händler sogar versucht Lie von ihrem Selbstzerstörungstrip abzuhalten. Doch das war nicht seine Baustelle und er würde einen Teufel tun und sich fremde Probleme aufhalsen oder sich derartig erhaben fühlen, darüber zu urteilen…
„Was woll’n die damit bezwecken?“ fragte sie. Er hob ahnungslos seine Hand um sie im nächsten Moment wieder auf den Tresen fallen zu lassen. „Sie wollen auf Freunde und Gefallene anstoßen und eine neue toxicfreie Ära einläuten.“ antwortete Timm schmunzelnd. „…liest wohl keine Zeitung, was?“ zog er sie milde lächelnd auf ehe er das Zeitungsblatt zurück zu den anderen legte. „Wahrscheinlich sind einfach schon zu viele Menschen gestorben. Irgendwie ist’s Alltag. Da verliert man wahrscheinlich irgendwann den Respekt vor. Ich weiß nur, wenn das meine Beerdigung wäre, würde ich abkotzen.“

Timm’s Hand schloss sich um Nyelas Oberarm nachdem sie sich ihm ein stückweit genähert hatte und zu Ende gesprochen hatte und zog sie noch etwas näher an sich heran. „Nyela!“ murmelte er ernst und blickte ihr direkt in die dunkelbraunen Augen. „Wem hast Du noch von deinen Vermutungen erzählt?“ Timm war keine Petze. Er würde sie für diese Worte nicht ans Messer liefern. Einige andere vielleicht schon. „Ich schwör’s dir. Ich habe keine Ahnung was der Scheiß soll. Es ist mir auch egal und das sollte es dir auch sein! Du musst damit aufhören Lares die Schuld für Lie’s Tod zu geben und ihn anzuprangern.“ Wer wusste schon wozu der Tauschhändler seit dem Tod seiner On-Off-Beziehung fähig war? „Ich kann dich vor ihm nicht beschützen, Nyela.“ Nicht das sie das jemals wollen würde oder gar nötig hatte. Sie war selbstbewusst genug um sich selbst zu verteidigen. Zumindest was verbale Attacken anging. Gegen alles andere war selbst sie schier machtlos. „Und ja…“ seufzte Timm. „Wir haben das Hauptquartier der Toxic’s übernommen. Es ist jetzt wieder ein stinknormales Hotel...“

"Niemandem! Ich bin doch nicht blöd!" erklärte Nyela sofort und befreite sich aus seinem lockerem Griff. Und nachdem sie einige Zentimeter zwischen sie gebracht hatte, näherte sie sich ihm wieder und fuhr im Flüsterton fort. Sein Blick war nicht länger auf seine Gegenüber gerichtet. Er hörte ihr jedoch weiterhin aufmerksam zu und faltete um seine Hände zu beschäftigen nebenbei eine Serviette zusammen. Timm legte seine Stirn in Falten. "Verbiete ich dir deine Meinung?" fragte er sie sachlich und blickte auf. Immerhin war er ebenfalls einer von den Tauschhändlern. Doch ohne ihre Antwort abzuwarten fuhr er fort: "Du sagst nicht einfach deine Meinung, Du beschuldigst jemanden des Mordes, Nyela. Du begehst Rufmord..." Timm zögerte einen kurzen Moment. "...oder so, was weiß ich..." fügte er murmelnd hinzu...
Timm schüttelte den Kopf als Nyela voller Überzeugung sagte, dass alles zusammen passte. Entweder war sie schlichtweg zu dumm oder aber sie wollte ihn einfach nicht verstehen. Er kannte die Besitzerin der Bar schon eine ganze Weile und konnte mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass sie nicht auf den Kopf gefallen war. Sie wollte ihn schlichtweg einfach nicht zuhören... "Es passt überhaupt nichts zusammen, Nyela. Deine Theorie hinkt hinten und vorne. Er hätte sich jedes, wirklich jedes Hotel in München aneignen können. Warum sollte er sich also erstens, die Mühe machen und Amelie dazu bringen sich mithilfe von Alkohol und anderen Drogen umzubringen? Was uns zu Zweitens bringt, denn wenn er sie wirklich hätte töten wollen, hätte er es einfach getan und es anschließend einem x-beliebigen Streuner in die Schuhe geschoben oder ihre Leiche einfach verschwinden lassen! Wen hätt's gestört? Die halbe Stadt hasst sie...
Warum also Drogen verschwenden die man hätte gewinnbringend verschachern können? Drittens, warum nicht einfach einen Artikel über's Hotel schreiben anstatt ganz München und Umgebung zum Essen einzuladen? Das ist eine ziemlich teure Werbekampagne, wenn Du mich fragst..." Er hatte eine ganz andere Theorie bezüglich des Hotels. Eine weitaus menschlichere...

„Och Nyela…“ entgegnete Timm und grinste schief als sie ihn berufsblind nannte. Er schob die Serviette von sich und beugte sich ein stückweit über den Tresen herüber. „…Du weißt doch, dass ich Lares nicht für einen Heiligen halte. Ich will dir auch nicht einreden, dass Du unrecht hast. Ich will nur, dass Du vorsichtig bist und dich nicht in irgendwas verrennst…“ Hinzukam, dass man die Hand die einen fütterte, nun einmal nicht biss. Was für ein scheinheiliger Mensch wäre Timm also, wenn er zwar für Lares arbeiten, aber seine Machenschaften verurteilen würde? Der fragwürdige Ruf der Tauschhändler war damals immerhin einer der Gründe gewesen, warum Timm ihnen beigetreten war und die Drecksarbeit für Lares gemacht hatte. Doch von der Seite in ihm schien Nyela nicht viel zu wissen, geschweige denn überhaupt etwas zu ahnen. Kein Wunder, er ging ja auch nicht damit hausieren. Zum einen, weil er kein Angeber oder Blender war und zum anderen, weil er das Geschehene eher verdrängte als wirklich darüber sprechen zu wollen…
Timm blickte seiner Gegenüber noch immer ins Gesicht ehe er mit den Handflächen ungeduldig auf die hölzerne Oberfläche des Tresens trommelte und sich langsam aufrichtete. „Jetzt sei nicht sauer, okay?“ Er wusste, dass Nyela durchaus ein kleiner Dickkopf sein konnte. „Na ja, wie auch immer, ich komm dann morgen Nachmittag nochmal vorbei und schau ob alles klar ist.“ Verfiel Timm etwa in sein altes Muster? Hatte er sich nicht vorgenommen gehabt, sich nur noch um sich selbst zu kümmern? Er warf ihr einen distanzierten Blick zu während er darüber nachdachte. Wahrscheinlich würde er morgen doch nicht vorbeikommen…

„…hm, schon klar…“ murmelte Timm unbeeindruckt als Nyela anfing rumzuzicken und ihm patzig zu verstehen gab, auf sich selbst aufpassen zu können. In solchen Momenten gab er sich nach außen hin stets gleichgültig und unnahbar. Ihm war nicht alles Scheiß egal, aber zeigen konnte er es ihr dennoch nicht. Es lag nicht unbedingt an Nyela oder dem Virus. Nein, er war schon immer so gewesen. Bei jedem.
„Wir haben nicht alle eine Bar.“ entgegnete Timm und grinste schief. Ihm war bewusst, dass das keine wirkliche Antwort auf ihre Frage gewesen war und es immer eine Alternative zum Zwielicht gab. Doch er brauchte das. Er brauchte jetzt genau diesen Job um klarzukommen! Lange genug hatte er versucht, jemand zu sein der er nicht war. Er hatte versucht der Gute zu sein und immer das Richtige zu tun. Und was hatte es ihm gebracht? Schlussendlich war er noch immer eins, ein Versager. Nur das er sich in seinem jetzigem Tribe nicht mehr rechtfertigen musste. Es war wie es war, er war wie er war und er tat eben das was er am besten konnte. Timm hatte Nyela nie etwas vorgemacht. Er hatte es ihr sogar einfach gemacht und sie mit Einzelheiten verschont, hin und wieder Besorgungen für sie getätigt und bei ihr nachdem rechten gesehen. Nur um anschließend wieder tagelang wegzubleiben, wenn er ein blaues Auge oder eine aufgeplatzte Lippe kassiert hatte…
Timm nickte knapp als Nyela ihm vorschlug, einen kleinen Stein gegen ihr Fenster zu werfen um sich bemerkbar zu machen. Er wusste noch nicht, ob er sie morgen wirklich besuchen kam oder doch lieber irgendwo anders sein eigenes Ding durchzog. „Okay, man sieht sich.“ murmelte er reserviert und verließ die Bar nachdem er seinen Zettel als auch seinen Stift in der Jackentasche verstaut hatte…

tbc: Straßen